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Die Inhalte dieser Seite können auch als PDF-Datei abgerufen werden unter www.dualwahl.de/testwahl.pdf


Dr. Björn Benken

Bericht zur Dualwahl-Testaus­zählung am 23.10.2022


Inhalte dieser Seite:

1.) Wie kam das Datenmaterial zustande?
2.) Wie kamen die Wahlvorstände mit dem Wahlsystem klar?
3.) Wie kamen die Wählenden mit dem Wahlsystem klar?
4.) Wie könnte man die Anzahl ungültiger Stimmen verringern?
5.) Wie sind die politischen Auswirkungen des Wahlsystems?
Der gesamte Bericht als PDF-Datei


1.) Wie kam das Datenmaterial zustande?

Die Projektgruppe Dualwahl der ÖDP Berlin und das Institut für Wahl­rechts­reform führten im Sommer 2022 auf drei öffentlichen Veran­stal­tungen ein Wahlexperiment durch: am 12. Juni beim Umweltfestival vor dem Brandenburger Tor, am 23. Juli auf dem Ökomarkt am Chamisso­platz und am 3. September auf dem Sommerfest der ÖDP in der Naugarder Straße in Berlin. Passanten wurden eingeladen, an einer "Testwahl" teilzunehmen. Damit die Stimmabgabe geheim erfolgen konnte, waren zwei Wahlkabinen aufgebaut worden - siehe Fotos (zur Vergrößerung bitte anklicken):

        

Insbesondere die Aktion auf dem Umweltfestival fand großen Zuspruch. Es nahmen insgesamt 258 Personen an der Testwahl teil, die sich wie folgt auf die drei Termine verteilten:

  • 12.06.2022 (Straße d. 17. Juni): 195 graue + 199 blaue Stimmzettel
  • 23.07.2022 (Chamissoplatz): 45 graue + 45 blaue Stimmzettel
  • 03.09.2022 (Naugarder Straße): 14 graue + 14 blaue Stimmzettel.

Die Testpersonen sind zunächst gebeten worden, auf einem grauen Stimmzettel nach dem herkömmlichen Verfahren eine Partei mit einem Kreuz zu wählen. Im Zweifel sollten sie ihre Stimme genau so vergeben, wie sie dies bei der vergangenen Bundestagswahl mit ihrer Zweitstimme getan hatten. Alternativ wurde den Teilnehmern vorgeschlagen (vor allem bei denjenigen, die zu erkennen gaben, dass sich ihre Parteipräferenz seit der letzten Wahl geändert hätte), die Partei anzukreuzen, die sie wählen würden, falls am kommenden Sonntag eine Bundestagswahl wäre.

Anschließend sollten die Testpersonen auf einem blauen Stimmzettel eine Wahlentscheidung nach den Regeln eines Dualwahlsystems treffen, indem sie zusätzlich zum Kreuz für ihre bevorzugte Partei eine weitere Partei mit der Ziffer "2" kennzeichnen konnten. Die Wahlhelfer sahen sich vor die Herausforderung gestellt, das neue Wahlsystem in anderthalb Minuten so gut zu erklären, dass die Teilnehmer/innen es korrekt umsetzen konnten. Unterstützend kam hier ein Infoblatt zum Einsatz. Doch auch für diejenigen, die sich als Testwähler/innen zur Verfügung gestellt hatten, war es zweifellos eine Herausforderung, das Wahlsystem in so kurzer Zeit zu verstehen. Offenbar hat das nicht in jedem Fall geklappt, wie in Abschnitt 3 näher beschrieben werden soll.


2.) Wie kamen die Wahlvorstände mit dem neuen Wahl­system klar?

Die Auszählung der Testwahl fand am 23. Oktober 2022 im Rahmen eines Workshops anlässlich der InitiativTagung Ersatzstimme in Berlin statt. Aus den sieben Teilnehmern des Workshops wurden für die Auszählung zwei Teams zu je drei Personen gebildet. Eines der Teams ("Team GRAU") zählte die grauen Stimmzettel aus, die nur ein einziges Kreuz pro Partei enthielten, wohingegen das andere Team ("Team BLAU") die blauen Stimmzettel auszählte, auf denen zusätzlich die Ziffer "2" für eine weitere Partei vorkommen konnte.

Niemand aus den beiden Untergruppen hatte bisher schon einmal in einem Wahlvorstand mitgearbeitet. Zur Erläuterung des Ablaufs wurde eine Checklist ausgeteilt, die sich an § 69 BWO orientierte, wobei das Procedere etwas gestrafft wurde. So wurde z.B. auf das Durchzählen aller abgegebenen Stimmzettel aus Zeitgründen verzichtet.

Bereits den ersten Arbeitsschritt - nämlich die Ermittlung der Erstpräfe­renzen - absolvierten beide Teams in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Allerdings waren die Zeiten, die die Gruppen dafür benötigten, nicht miteinander vergleichbar, weil sie sich für jeweils unterschiedliche Auszählungsstrategien entschieden. Im Team GRAU nahmen sich alle drei Gruppenmitglieder einen Teil der Stimmzettel und bildeten jeder für sich einzelne Partei-Stapel, die anschließend zusammengeführt wurden. Bis das Endergebnis vorlag, benötigten sie insgesamt 17 Minuten.

Tab. 1:  Das Ergebnis der Wahl 1 (GRAU) der Testwahl

Das Team BLAU hingegen wich von den Vorschlägen der Checkliste ab und wählte einen anderen Weg: Einer der Wahlhelfer entfaltete je einen Stimmzettel und las vor, für welche Partei die Erstpräferenz abgegeben worden war; diese Information wurde sodann von der Schriftführerin in eine Strichliste übernommen und ein weiterer Wahlhelfer legte den Stimmzettel schließlich auf dem jeweiligen Parteistapel ab.

Doch selbst wenn beide Teams eine vergleichbare Auszählungsmethode angewendet hätten, müsste man wohl davon auszugehen, dass das Team BLAU einen (leicht) erhöhten Zeitbedarf gehabt hätte - und zwar aus folgenden Gründen:

  1. Aufgrund der zwei Stimmkennzeichen pro Stimmzettel braucht das menschliche Auge wahrscheinlich (etwas) länger, um zu erfassen, welches jeweils die Erstpräferenz ist.
  2. Aufgrund der zwei Stimmkennzeichen pro Stimmzettel kann es mehr Gründe geben, weshalb ein Stimmzettel ungültig ist. Die Zahl der möglicherweise ungültigen Stimmen steigt an und damit die Zeit, die die Wahlhelfer benötigen, um Zweifelsfälle zu erfassen und zu bewerten.
  3. Da die Option, eine zusätzliche zweite Präferenz anzugeben, auch die strategischen Wahlüberlegungen verändert, könnte sich die Zahl der Parteien, die mindestens eine Stimme erhalten, gegenüber herkömmlichen Wahlen erhöhen. Dies zeigte sich auch bei der Testauszählung: Während beim Team GRAU nur 15 Partei-Stapel anfielen, hatte das Team BLAU 20 Stapel zu verwalten.

Um die Zwischenergebnisse und Ergebnisse festzuhalten, waren den Wahlvorständen verschiedene Arbeitsmaterialien zur Verfügung gestellt worden - so z.B. ein Blatt, welches nur die einzelnen Parteinamen enthielt und welches beide Gruppen nutzten, um darin die vorläufigen Ergebnisse zusammenzutragen. Für das Team GRAU war dieses Blatt ausreichend, um auch die Endergebnisse darzustellen. Das Team BLAU hingegen musste ja auch noch die Kombination aus Hauptstimmen und Stich­stimmen dokumentieren. Das vorbereitete Matrix-Blatt im DIN A3-Format wurde von den Wahlhelfern nicht benötigt, weil sie es als ausreichend (und übersichtlicher) empfanden, zeilenweise für jede festgestellte Parteikombination die Anzahl der erhaltenen Stimmen einzutragen, wie dies auch in der Darstellung der Endergebnisse zu sehen ist:

Tab. 2:  Das Ergebnis der Wahl 2 (BLAU) der Testwahl


3.) Wie kamen die Wählenden mit dem neuen Wahl­system klar?

Zur Beantwortung dieser Frage ist es naheliegend, die Zahl der ungültig abgegebenen Stimmen in den Blick zu nehmen. Während beim herkömmlichen Wahlverfahren nur 1 von 254 Stimmzettel ungültig war (weil er zusätzlich zum Kreuz eine Ziffer "2" enthielt), waren 27 der 258 abgegebenen Stimmzettel bei der Dualwahl-Variante ungültig. Von diesen 27 Stimmzetteln waren 2 offenbar willentlich ungültig gemacht worden: Einer enthielt den Zusatz "CSU" und ein Stimmzettel war vollständig durchgekreuzt.

Bei der Testwahl und auch im realen Betrieb scheint es sinnvoll zu sein, sogenannte Heilungsregeln anzuwenden, die einen formell nicht korrekt geäußerten Wählerwillen in eine gültige Stimmabgabe überführen, welche von der betreffenden Person mutmaßlich gewünscht worden ist. Hierzu bieten sich u.a. die folgenden Regeln an:

Heilungsregel A:
Steht kein "X", aber eine "1" auf dem Stimmzettel, zählt dies als "X".
Heilungsregel B:
Steht zusätzlich zu "X" ein "2X" auf dem Stimmzettel, zählt dies als "2".
Heilungsregel C:
Steht ein "XX" allein auf dem Stimmzettel, zählt dies als "X".

Die Heilungsregeln A, B und C kamen nur sehr selten (in jeweils 1 Fall) zur Anwendung; die betroffenen Stimmen wurden den gültigen Stimmen zugerechnet. Eine noch weitergehende Heilungsregel, die die Zahl der verbleibenden ungültigen Stimmen um mehr als die Hälfte reduziert hätte, hätte wie folgt aussehen können.

Heilungsregel D:
Steht zweimal ein "X" auf dem Stimmzettel, ist die Hauptstimme im Zweifel ungültig. Wenn aber von den beiden mit "X" gekennzeichneten Parteien genau eine in das Parlament einzieht, ist zumindest die Stichstimme gültig und zählt dann für ebendiese Partei.

Eine solche Heilungsregel D wäre in 15 von 25 Fällen relevant geworden und zwar bei folgenden Partei-Kombinationen auf dem Stimmzettel:
1 x ÖDP+SPD, 1 x GRAUE+SPD, 3 x Tierschutz+GRÜNE, 3 x ÖDP+GRÜNE, 2 x Gesundheit+GRÜNE, 1 x VOLT+GRÜNE, 1 x VOLT+FDP, 1 x Basis+FDP, 1 x Tierschutz+CDU, 1 x V-Partei3+LINKE.

Hingegen hätte bei 10 der 25 Stimmzettel, die zwei Kreuze enthielten, selbst die Heilungsregel D nicht mehr helfen können, weil bei den dort genannten Partei-Kombinationen nicht eindeutig war, welche Partei am Ende davon hätte profitieren sollen:
4 x LINKE+GRÜNE, 1 x CDU+GRÜNE, 3 x ÖDP+Tierschutz, 2 x DiePartei+Tierschutz.

Rätsel geben die (in großer Zahl abgegebenen) Stimmzettel auf, bei denen mit der Erstpräferenz eine große Partei gewählt wurde, die mit Sicherheit in das Parlament einrückt, und wo dennoch eine Zweitpräfe­renz für eine weitere große Partei (z.B. X=GRÜNE, 2=SPD) oder für eine kleine Partei (z.B. X=GRÜNE, 2=Team Todenhöfer) abgegeben wurde. Dies kann in voller Absicht geschehen sein, weil die Wähler/innen die Möglichkeit des neuen Wahlsystems nutzen wollten, um ihre Koalitionsvorlieben oder ihre Sympathien für eine kleine Partei zum Ausdruck zu bringen. Bei einer solchen Motivation wären diese Stimmen nicht nur formal korrekt, sondern würden auch die wahren Präferenzen der Wählenden widerspiegeln. Ein solches Stimmverhalten könnte aber auch darauf hindeuten, dass diese Wähler/innen den Sinn bzw. die Funktionsweise des neuen Wahlsystems nicht begriffen haben. Zwar wären auch dann die Stimmen formal korrekt abgegeben, würden aber möglicherweise nicht im Sinne des eigentlichen Wählerwillens wirken.

Unterscheidet man die abgegebenen Erst- und Zweitpräferenzen nach großen, mittelgroßen und kleinen Parteien - und zwar bezüglich der realen(!) Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 - so ergibt sich das folgende Bild (Tab. 4):

Stichstimme für:
Hauptstimme für:
große Partei mittelgr. Partei kleine Partei SUMME
große Partei (SPD, GRÜNE, CDU, AfD) 33+11 7 21 33+39
mittelgroße Partei (LINKE, FDP) 21 8+0 14 8+35
kleine Partei ("Sonstige") 47 13 32+24 32+84
SUMME:
33+79 8+20 32+59 73+158

lila = Die Stichstimme wurde implizit für dieselbe Partei vergeben (nur "X", keine "2").
grün = Die Stichstimme wurde für eine andere Partei vergeben.

Von den 231 abgegebenen Dualwahl-Stimmzetteln war also auf 158 Stimmzetteln (68%) eine zweite Präferenz angegeben. Dies dürfte ein unrealistisch hoher Anteil sein, der unter anderem dem "spielerischen" Charakter der Testwahl geschuldet war. Viele der Wähler/innen sind offenbar nach dem Motto vorgegangen: "Wenn mir hier schon die Chance eingeräumt wird, meine zweitliebste Partei zu benennen, dann will ich das auch ausnutzen". Auch ist zu beachten, dass diejenigen, für die die im Dualwahlsystem enthaltenen Neuerungen keine Relevanz gehabt hätten, in weiten Teilen gar nicht erst an der Testwahl teilgenommen haben. Dies wurde von dieser Personengruppe auch oft kommuniziert und nur selten gelang es den Wahlhelfern dann, die Wähler/innen davon zu überzeugen, dass auch ein völlig gleichlautendes Votum auf beiden Stimmzetteln ein wertvoller Beitrag für die Testwahl wäre.


4.) Wie könnte man die Anzahl ungültiger Stimmen verringern?

Bei der Interpretation des Anteils der ungültigen Stimmen sind sicherlich die Umstände zu beachten, unter denen die Testwahl stattfand (vgl. auch Abschnitt 1). Mitten aus einer heiteren Volksfestatmosphäre heraus wurden die Testpersonen gebeten, "mal kurz an einem Wahlexperiment teilzunehmen". Auch Minderjährige und Ausländer, die unter normalen Umständen nicht wahlberechtigt gewesen wären, wurden zugelassen.

Dennoch stellt sich die Frage, ob der Anteil ungültiger Stimmen, der beim Testwahl-Setting bei hohen 10 Prozent lag, durch eine andere Form der Stimmabgabe bzw. ein anderes Design der Stimmzettel positiv beein­fluss­bar gewesen wäre. Insbesondere zwei mögliche Modifikationen sollten diskutiert werden: Statt der Kombination "X"+"2" die Zeichen-Kombination "1"+"2" zu verwenden oder aber eine zusätzliche Spalte für die Ersatzstimme/Stichstimme einzuführen, wobei der Kreis für das zweite Kreuz kleiner als der Kreis für die Hauptstimme dargestellt werden könnte, um die Nachrangigkeit dieser Stimmabgabe auch visuell zu verdeutlichen.

Jede dieser Lösungen hat sowohl Vorteile wie auch Nachteile. Der Stimmzettel, der der Testwahl zugrundelag, ähnelt am ehesten dem bekannten Stimmzettel. Wer nach herkömmlicher Art wählt, hätte dann auf jeden Fall eine vollgültige Stimme abgegeben. Das käme vor allem denjenigen zugute, die eine große Partei bevorzugen und für die die Abgabe einer Zweitpräferenz ohnehin uninteressant wäre. Man könnte also die Wahlrechtsänderung von Anfang an so kommunizieren, dass sie eine Zusatzoption bietet, die nur für eine ganz bestimmte Wählergruppe interessant wäre.

Schwierig bei dem der Testwahl zugrundegelegten System ist aber möglicherweise die Tatsache, dass sich für diejenigen, die die neue Option nutzen möchten, die Bedeutung des Kreuz-Zeichens verändert. Nicht mehr das Kreuz bezeichnet die entscheidende Stimmabgabe, die für die Sitzverteilung verantwortlich ist, sondern das (intuitiv vielleicht nur als "zweitrangig" empfundene) Zeichen "2". Dass die Ziffer "2" dabei schlichtweg als Zweitpräferenz übersetzt werden kann, ist vielleicht nicht jedem klar geworden. Um ein solches Verständnis zu fördern, könnte man statt "X" und "2" auch eine Kennzeichnung mit "1" und "2" einführen und als Faustregel kommunizieren, dass die Wähler/innen einfach nur ihre zwei Lieblingsparteien in eine Präferenzreihenfolge bringen sollten. Dies könnte allerdings dazu führen, dass auch die Anhänger/innen großer Parteien sich aufgefordert fühlen, ebenfalls eine Zweitpräferenz anzugeben.

Und: Würde man die Kennzeichnung "1" und "2" vorschreiben, würde dies für alle Wählenden eine völlig neue Art der Stimmkennzeichnung bedeuten. Das Gleiche trifft auf den Vorschlag zu, eine zusätzliche Spalte für die Abgabe der Ersatzstimme/Stichstimme einzuführen. In beiden Fällen wäre ausnahmslos jeder gezwungen, sich gedanklich mit dem neuen Wahlsystem auseinanderzusetzen. Im erstgenannten Fall sollte auf jeden Fall eine Heilungsregel dafür sorgen, dass das Kennzeichen "X" dem Kennzeichen "1" gleichgestellt ist. Dennoch ist eine gewisse Verun­siche­rung bei einem Teil der Wählerschaft nicht ausgeschlossen. Bei der Zwei-Spalten-Lösung hingegen käme es sehr auf das konkrete Design des Stimmzettels an. Im Zweifel sollte sich der neue Stimmzettel so eng wie nur möglich am bekannten Aussehen der bisherigen Stimmzettel orientieren und die neue Option der Stichstimme sollte optisch hinter die Abgabe der Hauptstimme zurücktreten. Falls allerdings perspektivisch eine Erweiterung des Systems auf eine Ersatz-Ersatzstimme oder gar beliebig viele nachrangige Präferenzen vorgesehen ist, würde das wohl eher für eine Durchnummerierung (1, 2, 3, 4… n) sprechen - wie man sie auch aus den IRV-Systemen in Irland oder Australien kennt - als für eine Spaltenlösung.


5.) Wie sind die politischen Auswirkungen des neuen Wahlsystems?

Wie in Abschnitt 1 nachgelesen werden kann, wurde die Testwahl an Orten durchgeführt, an denen vor allem ein links-alternatives Klientel anzutreffen war. Ursprünglich waren auch Stände an anderen Orten geplant gewesen; diese konnten aber aus Zeitgründen nicht mehr durchgeführt werden. Insofern war nicht zu erwarten gewesen, dass die Ergebnisse der Testwahl in irgendeiner Weise eine Repräsentativität für sich beanspruchen könnten. Dies zeigt auch ein Vergleich mit den Ergebnissen der Bundestagswahl 2021 bzw. mit den Umfrage­ergeb­nissen zur sogenannten Sonntagsfrage im Sommer 2022. Dass z.B. die GRÜNEN bei Testwahl 1 fast 59 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten, die CDU hingegen nur 5 Prozent, ist zweifellos auf die Orte der Stimm­abgabe zurückzuführen. Doch selbst bei einem idealen Studien­design wären die Ergebnisse nicht 1:1 auf die Realität übertragbar gewesen. So ist zum Beispiel bekannt, dass AfD-Wähler weniger mobil sind als andere Wählergruppen und somit seltener bei Outdoor-Veranstaltungen anzutreffen sind und dass sie zudem eine überdurch­schnittlich große Abneigung haben, an Umfragen und vergleichbaren Aktionen teilzunehmen.

Dennoch erlauben die Ergebnisse der Testwahl einen Einblick, welche Kombinationen aus jeweils zwei Parteien von den Wählern und Wählerinnen bevorzugt werden. Auch wenn die erhobenen Zahlen aufgrund der geringen Stichprobengröße wenig aussagekräftig sind, so können auch Einzelfälle dennoch zu Aha-Erlebnissen führen:

Tab. 2:  Das Ergebnis der Wahl 2 (BLAU) der Testwahl

Durchaus erhellend ist auch der Blick auf die Verschiebungen, die sich aufgrund der Einführung einer Dualwahl-Option ergeben haben (wenngleich auch hier alle Interpretationen mit Vorsicht zu genießen sind - vgl. die vorangegangenen Abschnitte und die dort diskutierte Frage, ob alle Wählenden das Prinzip der Wahlrechtsänderung tatsächlich verstanden haben):

Tab. 3:  Die Ergebnisse der beiden Wahl-Durchgänge der Testwahl im Vergleich

Ein recht eindeutiger Befund ist, dass kleine Parteien die Zahl ihrer Hauptstimmen bei der Wahl mit Ersatzstimme (blau) deutlich steigern konnten gegenüber der Wahl nach herkömmlichem System (grau) - und zwar hier im Durchschnitt auf etwa das Doppelte. Keine der kleinen Parteien schnitt bei der Dualwahl schlechter ab, was allerdings auch nicht zu erwarten gewesen war. (Lediglich bei der Basis hat eine der Personen, die diese Partei bei Wahl 1 wählte, bei Wahl 2 offenbar eine ungültige Stimme abgegeben, weil auf einem der Stimmzettel sowohl dieBasis wie auch die Tierschutzpartei mit einem Kreuz gekennzeichnet waren).

Trotz der zahlreich verteilten Ersatzstimmen und der damit zusammen­hängenden Hauptstimmen-Einbußen auf Seiten der großen Parteien hat es am Ende bei der Sitzverteilung nur geringfügige Veränderungen gegeben - mit einer Ausnahme: Die LINKE konnte ihr Ergebnis um satte 4 Prozentpunkte verbessern zu Lasten aller anderen Parteien. Dies ist wegen der geringen Fallzahlen aber vermutlich kein statistisch signifikantes Ergebnis und im Übrigen eine bloße Momentaufnahme der parteipolitischen Konstellationen und Präferenzen. Und schließlich sind auch diese Ergebnisse mit den schon oben diskutierten Unsicherheiten behaftet - als da wären: mögliche Irrtümer bei einem Teil der Wählenden bezüglich des Wahlsystems und eine große Zahl an Stimmzetteln, die wegen eines unklaren Wählerwillens für ungültig erklärt werden mussten.

Wären die Ergebnisse der Testwahl repräsentativ für die gesamte Bundestagswahl gewesen (was sie keinesfalls waren - vgl. den Anfang dieses Abschnitts), so hätten auch drei kleine Parteien den Einzug in das Parlament geschafft: die Tierschutzpartei, die ÖDP und VOLT. Dass diese drei Parteien so stark von der Dualwahl profitierten, dürfte vor allem auf die Orte des Wahl-Events und das dort vorhandene Wählermilieu zurückzuführen sein.

Zum Schluss soll noch ein Aspekt diskutiert werden, der auf den ersten Blick irritierend wirken kann: Während bei der Wahl 1 (grau) die Sitzver­teilung auf Basis von 198 Stimmen vorgenommen wurde, konnten bei der Wahl 2 (blau) lediglich 190 Stimmen berücksichtigt werden. Selbst wenn man mit einbezieht, dass bei der letztgenannten Wahl 2 Stimmzettel mutwillig ungültig gemacht worden sind (was bei Wahl 1 nicht vorkam) und dass 5 von den verbleibenden 10 ungültigen Stimm­zetteln ganz offensichtlich zugunsten einer großen Partei hätten zählen sollen (wo nur nicht klar ist, zugunsten welcher), so wäre selbst dann die Anzahl derjenigen, die entweder mit der Hauptstimme oder mit der Stichstimme eine große Partei gewählt hatten, um 1 gegenüber der ersten Wahl gesunken. Das Gegenteil wäre zu erwarten gewesen und über die Gründe lässt sich nur spekulieren. So könnte es die Testwähler/innen zum Beispiel beeinflusst haben, dass sie aufgefordert wurden, auf dem grauen Stimmzettel "wie bei der letzten Bundestagswahl" zu wählen. Wenn sich aber seit diesem Zeitpunkt bei einigen Teilnehmer/innen die politischen Einstellungen geändert haben dergestalt, dass sie mittlerweile keine der großen Parteien mehr für wählbar halten, dann könnte dies eine Erklärung für den beobachteten Effekt sein. Zumindest ist der Trend einer immer größeren Hinwendung zu den "sonstigen" Parteien auch ganz ohne Änderung des Wahlrechts eine Tatsache.

Ebenfalls nicht ausgeschlossen ist ein verändertes Wählerkalkül: Wer bei der Dualwahl davon ausgegangen ist, dass eine der bisherigen Kleinparteien dank des neuen Wahlsystems den Sprung über die Sperrhürde schaffen könnte, für den wäre auch eine Stichstimme beispielsweise für die Tierschutzpartei oder Die PARTEI eine rational begründbare Wahlentscheidung gewesen.

(11.11.2022)


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